In dem orientalischen Märchenband „Tausendundeine Nacht“ findet Aladin, ein mittelloser junger Mann, in einer versteckten Höhle eine Wunderlampe. Als er an der Lampe reibt, erscheint ein mächtiger Flaschengeist und gewährt ihm drei Wünsche. Aladin nutzt die Macht des Dschinns, um sein Leben zu verbessern und das Herz der Prinzessin Badroulbadour zu gewinnen.

In anderen Erzählungen sind die Dschinn weniger hilfreich. Manche interpretieren einen Wunsch wortwörtlich und nicht nach seiner Bedeutung. Es gibt Flaschengeister, die das Chaos genießen, wenn sie den Wünschenden manipulieren. Und es gibt diejenigen, die den Wünschenden anregen, sorgfältig über seine Wünsche und die möglichen Konsequenzen nachdenken.

Der neueste Flaschengeist ist die generative KI. Dieser Vergleich ist aufgrund der immensen Leistungsfähigkeit des Tools, der notwendigen Sorgfalt bei Konversationen, der ironischen oder abträglichen Resultate, der ethischen Komplexität und der weitreichenden Konsequenzen durchaus angebracht. Wie wird dieser Wundergeist die Arbeit im Personalwesen beeinflussen?

 

Welchen Stellenwert generative KI im Personalwesen einnimmt

Wir betrachten die generative KI aus der Perspektive der Personalabteilung. Die ist besonders komplex, da HR-Experten nicht nur herausfinden müssen, wie sie sie selbst nutzen können. Sie müssen gleichzeitig darauf achten, wie sie die Veränderungen der Arbeit aller anderen in ihrer Organisation steuern. Es gibt jedoch einige sichere Aussagen, die wir getrost aufstellen können.

 

  • Aussage Nr. 1: Generative KI ist eine leistungsstarke und leicht zugängliche Technologie, die auf der Grundlage von Prompts (Eingabeaufforderungen) oder Queries (Abfragen) verschiedene Arte von Inhalten wie Texte, Bilder, Audios, Videos und Codes erstellen kann.
  • Aussage Nr. 2: Generative KI hat erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitswelt, da sie die Effizienz, Produktivität, Individualisierung und Innovation in verschiedenen HR-Funktionen und -Aktivitäten verbessern kann.
  • Aussage Nr. 3: Die Einführung von generativer KI erfolgt schnell und umfassend. Viele Mitarbeitende nutzen die Technologie bereits für Arbeitszwecke, unabhängig von Unternehmensrichtlinien oder Standpunkten der Unternehmensführung.
  • Aussage Nr. 4: Generative KI birgt bedeutende Chancen und Herausforderungen für das Personalwesen, wie die Verbesserung der Employee Experience (Mitarbeitererfahrung), der Fortbildung (L&D), des Recruitings und in People Analytics, bringt aber auch ethische, rechtliche und Sicherheitsfragen mit sich.

 

Das Potenzial ist immens. Es kann von Menschen mit jedem Bildungsniveau, überall auf der Welt und in jedem Berufsfeld genutzt werden. Forschungen von OpenAI deuten darauf hin, dass 80% aller Berufe in mindestens 10% der Aufgaben betroffen sein werden. Das bedeutet, dass die große Mehrheit der Menschen Technologie in ihre Arbeitsabläufe integrieren wird, die die Art und Weise, wie sie ihre Arbeit erledigen, verändert, ihre Effizienz, Beziehungen und Ergebnisse.

HR muss sich vorbereiten, und zwar ziemlich rasch. Doch bevor wir darüber nachdenken, WIE wir uns vorbereiten müssen, müssen wir definieren WORAUF.

 

Es geht nicht darum, wie wir uns vorbereiten, sondern worauf

Beispielsweise kann generative KI dabei helfen, Unternehmensrichtlinien zu entwerfen, die mit der Vision, dem Auftrag und den Zielen des Unternehmens übereinstimmen. Es ist jedoch nicht klar, wie KI die Kultur und den Kontext des Unternehmens einbeziehen kann. KI kann nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Oder denken Sie an Stellenbeschreibungen. Generative KI hilft bei der Erstellung effektiver Stellebeschreibungen, die diverse Talente anziehen und binden. Doch sie stößt an Grenzen, wenn es darum geht, Konsistenz in der gesamten Organisation zu gewährleisten, Vorurteile zu vermeiden und die Unternehmenskultur einzufangen. Es ist nicht eindeutig, in welchem Umfang menschliches Eingreifen erforderlich ist.   

Es ist ebenfalls unklar, wie KI zur Erstellung von Lerninhalten eingesetzt werden kann. Sie schafft ansprechende und personalisierte Lernerfahrungen wie Kurse, Quizze oder Videos,  aber die Genauigkeit und Relevanz für eine bestimmte Aufgabe werden möglicherweise nicht immer gewahrt . Darüber hinaus können menschliche Komponenten des Lernens, wie Feedback, Coaching, Mentoring und Zusammenarbeit, nicht ersetzt werden. Diese menschlichen Komponenten könnten in der Zukunft sogar noch wichtiger werden.

Generative KI wird sich nicht linear entwickeln. Wie in jedem Märchen gibt es meist eine Wendung in der Geschichte. Wie können wir herausfinden, auf welche Realität sich das Personalwesen vorbereiten muss?

 

Die Treiber des Wandels und die wichtigsten Unsicherheitsfaktoren

Um Vorhersagen über die Entwicklung der generativen KI im Personalwesen zu treffen, haben wir ein Scenario Planning durchgeführt. In einem ersten Schritt haben wir die wichtigsten Unsicherheiten und die wichtigsten Triebkräfte des Wandels ermittelt, um plausible und kohärente Szenarien auf der Grundlage verschiedener Kombinationen dieser Faktoren zu erstellen.

Treiber des Wandels

1. Die rasche Weiterentwicklung und Zugänglichkeit generativer KI-Technologie und -Tools.

 

2. Die steigende Nachfrage und Forderung von Effizienz, Produktivität, Individualisierung und Innovation in HR-Funktionen und -Aktivitäten.

 

3. Die sich verändernde Natur und Zusammensetzung von Arbeit, Talenten, Rollen und Fähigkeiten im digitalen Zeitalter.

 

4. Das Aufkommen neuer Vorschriften und Richtlinien für den verantwortungsvollen Einsatz von KI in Unternehmen.

 

5. Die Entfaltung neuer Kompetenzen und Denkansätzen zur Nutzung von generativer KI in HR.

Unsicherheitsfaktoren

1. Das Bewusstsein und das Verständnis bei HR-Experten und Führungskräften für generative KI.

 

2. Der Akzeptanzgrad und das Ausprobieren generativer KI-Tools durch HR-Experten und Mitarbeitende.

 

3. Die Qualität und Genauigkeit der von generativen KI-Tools erzeugten Ergebnisse.

 

4. Die ethischen, rechtlichen und sicherheitsrelevanten Auswirkungen des Einsatzes generativer KI-Tools im Personalwesen.

 

5. Die Auswirkungen von generativen KI-Tools auf die Rolle, die Funktion und die Fähigkeiten von HR-Fachleuten.

In einem zweiten Schritt haben wir das Toolkit des Weltwirtschaftsforums (WEF) für den verantwortungsvollen Einsatz von KI-basierten Tools im Personalwesen getestet. Dies war besonders wichtig für uns, da wir glauben, dass das Management von Menschen eine besondere Verantwortung für den ethisch korrekten Einsatz von generativer KI trägt. Die Checklisten des WEF bieten dabei keinen Blick in die Zukunft, aber sie liefern zusätzliche Ideen, beschreiben potenzielle Hindernisse und ermöglichen Einblicke durch die Überprüfung von Beispiel HR-Werkzeugen.

Zum Dritten haben wir uns die Prognosen und Äußerunen anderer Vordenker in diesem Bereich angesehen. Um nur einige zu nennen: Lareina Yee, Vorsitzende des McKinsey Technology Council, ist Mitautorin des wunderbaren Podcasts Generative AI and the future of HR. Josh Bersin, Gründer des gleichnamigen Beratungsunternehmens und Autor des Artikels The Role of Generative AI and Large Language Models in HR, analysiert neu entstehende generative KI-Tools für HR-Zwecke. Jennifer Rozon, Präsidentin von McLean & Company, gibt wertvolle Hinweise für HR-Experten, z.B. wie Personalabteilungen Unternehmen helfen können, von generativer KI zu profitieren.  Oder Matissa Hollister, Fellow beim WEF und Leiterin des Projekts Human-Centred AI for HR, welches das Artificial Intelligence for Human Resources Toolkit entwickelt hat.

 

Drei Szenarien für die unmittelbare Zukunft generativer KI

Zusätzlich zu den externen Daten und Ideen haben wir nach innen geschaut und uns auf die langjährige, gemeinsame Erfahrung unserer Berater gestützt. Wir haben eine erste Liste mit den wahrscheinlichsten Kombinationen von Einflussfaktoren für Veränderungen und Unsicherheiten erstellt. Dann haben wir inhaltliche Überschneidungen und zeitliche Überlappungen identifiziert, um die Szenarien zu kombinieren, ganz zu streichen oder zu präzisieren. Als Ergebnis haben wir drei kohärente und plausible Szenarien erstellt, die einen praktischen Ausgangspunkt darstellen.

Szenario 1: Vollständig Eintauchen - Generative KI beschleunigt die HR-Transformation

HR-Experten haben generative KI weitgehend übernommen, um Effizienz, Produktivität, Anpassungsfähigkeit und Innovation in ihren verschiedenen Funktionen und Aktivitäten zu maximieren. Die Tools werden eingesetzt, um Lerninhalte zu erstellen und zu verfeinern, Stellenbeschreibungen zu verfassen, Unternehmensrichtlinien zu entwerfen, Interviewfragen zu konzipieren und personalisiertes Feedback und Karriereempfehlungen zu geben. Darüber hinaus arbeiten die Fachleute mit anderen Abteilungen zusammen, um ein sicheres und transparentes Governance-Framework für die Nutzung dieser intelligenten Algorithmen zu gewährleisten, wie beispielsweise Protokolle für Sicherheit und Datenschutz, datenethische Grundsätze, Mechanismen der Verantwortlichkeit und Feedbackschleifen.  Darüber hinaus werden wirksame Lern- und Entwicklungsprogramme konzipiert und umgesetzt, um Mitarbeitenden die erforderlichen Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, generative KI bei ihrer Arbeit zu nutzen. Letztendlich haben diese Initiativen positive Auswirkungen sowohl für Personaler*innen als auch für Mitarbeiter*innen: Sie sparen Zeit und Geld, reduzieren menschliche Fehler und Burnout und steigern die Arbeitszufriedenheit, die Mitarbeiterbindung, das Leistungsniveau und die Innovationsfähigkeit. Durch die schnelle und breite Einführung von generativer KI im Personalwesen werden andere HR-Transformationsaktivitäten erheblich beschleunigt.

Scenario 2: Abwarten - Generative KI Schafft HR-Disruption

In diesem Szenario nehmen die Mitarbeitenden generative KI-Tools schnell an und nutzen sie für ihre Arbeitszwecke, ohne Rat oder Aufsicht von HR-Experten oder Führungskräften einzuholen. Sie nutzen generative KI-Tools, um ihre Aufgaben oder Projekte zu optimieren, ohne die Qualität oder Genauigkeit der Ergebnisse, die ethischen oder rechtlichen Implikationen ihres Handelns zu berücksichtigen. In einigen Fällen setzen sie generative KI-Tools ein, um HR-Prozesse oder -Richtlinien zu umgehen oder zu manipulieren, ohne entdeckt oder zur Rechenschaft gezogen zu werden. Zudem informieren sie ihre Vorgesetzen oder Kollegen nicht über die Nutzung generativer KI-Tools, es sei denn, sie sind dazu verpflichtet. Darüber hinaus werden sie auch nicht geschult oder darin unterstützt, wie sie generative KI-Tools effektiv und verantwortungsvoll nutzen können. Letztlich kann dies zu einer Vielzahl negativer Folgen, sowohl für die Mitarbeitenden als auch für die Personalverantwortlichen führen, z.B. erhöhte Datenschutzrisiken, vermehrten Problemen mit Voreingenommenheit/Diskriminierung, Compliance-Verstößen, vermehrten Konflikten oder Streitigkeiten, erhöhte Fluktuation, verringertem Vertrauen, verringertem Leistungsniveau und verringerter Innovationsfähigkeit. Dieses Szenario wirkt sich störend auf die Personalabteilung als Ganzes aus, da sie nicht an der Einführung von generativer KI durch die Mitarbeitenden beteiligt ist.

Szenario 3: Vorsichtige Schritte – Generative KI stößt auf HR-Widerstand

In diesem Szenario haben HR-Experten generative KI vorsichtig angenommen und verwenden sie nur sparsam und selektiv für bestimmte wenig risikoreiche Aufgaben oder Projekte. Sie haben nicht die Möglichkeit erwogen, sie für andere HR-Funktionen oder Aktivitäten einzusetzen. Initiativen oder Vorschläge, die den Einsatz generativer KI beinhalten, wurden abgelehnt oder zurückgewiesen. Es wurde keine Kommunikation oder Zusammenarbeit mit anderen Abteilungen bzgl. der Governance und Strategie durchgeführt und es wurde nicht in Lern- und Entwicklungsprogramme im Zusammenhang mit generativer KI investiert. Dadurch haben sowohl die HR-Experten als auch die Mitarbeitenden potenzielle Chancen und Vorteile der generativen KI verpasst, wie beispielweise Kosten- und Zeiteinsparungen, mehr Gleichberechtigung, Reduzierung menschlicher Fehler und Burnout, erhöhte Datenschutzstandards, gesteigerte Arbeitszufriedenheit, verbesserte Leistungsfähigkeit und erhöhte Innovationsfähigkeit. Trotz des vorsichtigen Ansatzes kann dies negative Auswirkungen auf die Geschäftsstrategie haben, wenn eine bestimmte Schwelle im Bezug auf Kooperation und Risiko nicht überschritten wird.

Was bedeuten diese Szenarien für den Beitrag der Personalabteilung zu den Unternehmensergebnissen?

Die Erkenntnis aller drei Szenarien ist, dass wir als HR-Experten das Potenzial generativer KI proaktiv nutzen müssen, wenn wir weiterhin einen Beitrag zu den Geschäftsergebnissen leisten wollen. Außerdem müssen wir für eine verantwortungsvolle Umsetzung und transparente Goverance sorgen. Aber das ist nicht unbedingt einfach.

Wir müssen uns selbst und die Arbeitskräfte weiterbilden. Wir müssen experimentieren, beobachten messen und mit anderen Abteilungen kooperieren. Wir müssen auf die Organisationskultur achten und auf die Auswirkungen auf die Gestaltung von Arbeitsplätzen, die Personalstruktur und die Vergütung. Wir müssen den besten Weg dahin herausfinden, während wir schon auf dem weg sind.

  • Aussage Nr. 5: Wir können auf die Unterstützung des mächtigen Dschinn, der generativen KI, zählen, wenn wir unsere Fähigkeiten und die der  Belegschaft weiterentwickeln, wenn wir zusammenarbeiten und wenn wir die KI durch Kultur und Governance verantwortungsbewusst integrieren.
  • Aussage Nr. 6: Der Dschinn hilft uns dabei, die Arbeit von Menschen und Technologie noch besser miteinander zu verknüpfen, um Wertschöpfung zu erzeugen. Wir können verbessern, wie Arbeit in unseren Organisationen geschieht, mit positiven Auswirkungen auf die Mitarbeitenden und die Arbeitsergebnisse.

Der erste Schritt auf diesem Pfad ist Training und Experimentierfreudigkeit. Denn (zumindest vorerst) sind es nicht Daten, die wertvolle Ergebnisse produzieren, sondern die in der Praxis funktionierenden Prompts der Mitarbeitenden, die damit ihr Fachwissen codieren und es weitergeben können.